Bei meinen Recherchen zu den einzelnen Jahreskreisfesten bin ich immer wieder fasziniert davon, wie sehr sich die Botschaften vieler Mythen und Märchen, und die Intention vieler Rituale und Bräuche ähndeln. Diese Ähnlichkeit besteht über Ländergrenzen und Kulturkreise hinweg. In Mitteleuropa kannte man den Brauch, die erste und die letzte Garbe der Ernte zu weihen. Manchmal wurde das Kornbündel von einem jungen Mädchen geerntet, zu einer Figur zusammengebunden, in Kleider gehüllt und geschmückt. Als Zeichen der Dankbarkeit blieb diese Kornmutter (oder auch Getreidemuhme) auf dem Feld stehen, oder sie wurde in einer feierlichen Prozession nach Hause getragen – wo sie bis zum nächsten Jahr einen Ehrenplatz bekam. Die Botschaft dahinter lautet: „Begegne den Wesen, die deine Nahrung werden, mit Respekt„. In den Märchen der Indigenen auf dem Amerikanischen Kontinent, die von der Cornmother – der Maismutter – erzählen, findet sich die selbe Anweisung. Im alten China erforderte die Reisernte besondere Umsicht, denn es galt, die scheue Reismutter nicht zu erschrecken. In Indien erzählt der Mythos der Annapurna, der Göttin des Reises und Brotes, davon, was passiert, wenn sie verspottet wird.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn der Mensch diese uralten Anweisungen noch heute befolgen würde. Wie würde sich die Weltgesellschaft verändern, wenn alle Menschen ihren Nahrungsmitteln mit Respekt und Achtsamkeit begegnen würden? Wenn wir im Bewusstsein der Arbeit konsumieren würden, die in Aufzucht, Ernte oder Schlachtung, Lagerung, Verarbeitung und Zubereitung steckt. Was würden wir empfinden und wie würden wir handeln?
In unserem westlichen Kulturkreis sind wie dazu verleitet, Nahrung als etwas zu betrachten, auf das wir einen Anspruch haben. Eine andere Perseptktive ist es, Nahrung als Geschenk zu betrachten. Einer Schenkenden begegnen wir mit Dankbarkeit und dem Wunsch, etwas zurückzugeben. Wenn wir etwas zurückgeben, das dringend gebraucht wird, kann ein Gefühl der Interdependenz entstehen. Im Daishin Zen Buddhismus lautet eine der fünf Erinnerungen vor dem Essen: „Ich empfange diese Gabe, um allen Wesen zu nutzen“. Fragen wir uns also, wie wir allen Wesen nutzen können und richten wir unser Handeln darauf aus.
In meinen Augen braucht wie Welt mehr Menschen, die sich respektvoll mit der Natur verbinden, von den natürlichen Kreisläufen lernen und mit ihnen arbeiten, statt gegen sie. Jahreskreisfeste zu feiern kann uns auf diesem Weg unterstützen, denn sie fördern Wahrnehmung, Achtsamkeit und Dankbarkeit.